Am 03.03.2023 fand die Anhörung zum vorliegenden Entwurf zur Novellierung des Gesetzes über Kindertageseinrichtungen (SächsKitaG) im Sächsischen Landtag statt. Der Entwurf sieht neben der Schärfung des Bildungsauftrages einen personellen Aufwuchs von 4% in den sächsischen Kitas und Horten vor. Bei dem Punkt Inklusion bleibt das Papier weit hinter den Erwartungen der geladenen Sachverständigen zurück. Auch das DRK Sachsen war in Form von Frau Silke Hensel, Referentin Kindertagesbetreuung geladen, die folgende Rede hielt:

Es ist kurz vor Mittag. Ich bin Leiterin einer Kita mit 105 Plätzen und einem Hort mit weiteren 170. Heute bin ich im Gruppendienst eingesetzt (das dritte Mal in dieser Woche), denn die Kollegin, die eigentlich hier arbeitet, befindet sich im Rahmen ihrer Funktion als Sicherheitsbeauftragte in meinem Haus auf einer Weiterbildung. 


Gerade helfe ich Hanna aus ihrem viel zu engen Kleid, beruhige Tim und Paul, die sich hinter meinem Rücken gerade mit ihren Hosen eine wilde Schlacht liefern und ermutige Thea liebevoll dazu, langsam mit dem Essen fertig zu werden. Aus der Ferne höre ich, wie mein Name gerufen wird. Ach Gott, das ist Finn! Er sitzt noch auf Toilette und wartet darauf, dass ich ihn sauber mache. „Finn, ich bin gleich da. Tut mir leid, dass Du so lange auf mich warten musst“, rufe ich quer durch den Gruppenraum hinüber ins Bad.
Vor der Gruppentür steht eine Mutter, die ihre Tochter abholen möchte und, welche noch dringenden Redebedarf hat. Sie hat einen Antrag des Jugendamtes in der Hand und möchte diesen mit mir gemeinsam ausfüllen. Das ist notwendig, denn bei ihr übernimmt die Behörde die Zahlung des monatlichen Platzgeldes. Und auch ich bin daran interessiert, dass sie diese Leistung zeitnah beantragt, damit die Finanzierung nahtlos erfolgt und keine offenen Gebühren entstehen. Dies ist nämlich bei jener Familie der Fall, mit der ich eine Stunde später zusammensitzen werde, um die Situation im Sinne des Kindes zu klären und eine Weiterbetreuung zu sichern. Ich bitte also die Mama, sich zu gedulden, nehme Tim und Paul ihre Unterhosen vom Kopf- na ja, was soll ich sagen, zumindest schlagen sie sich nicht mehr mit der Jeans- und reiche ihnen ihre Schlafanzüge. Bevor ich die Schlafmatten für die Kinder auf den Boden legen kann, müssen Tische und Stühle beiseite geräumt und der Boden noch von den Griesbrei-Resten befreit werden. Ich gehe ins Bad, erlöse Finn von der Toilette und fülle mir den Wassereimer, um zu wischen. Doch als ich den Gruppenraum betrete, weint Paul. Beide Beine stecken in einem Schlafanzugsbein. Er fand das einfach lustig. Nun ist er beim Hascher-Spielen mit Tim gestolpert und gegen die Tischkante gefallen. Ich stelle den Wassereimer ab und tröste ihn. Zum Glück ist der Rest der Gruppe bereits ausgezogen und wartet geduldig auf ihre Matten. Auch Thea hat offensichtlich ihr Mittagessen beendet, denn auf dem Weg zum Bad läuft sie gegen den Wassereimer. Gerade ergießen sich 5 Liter Wasser im Gruppenraum. Ich atme den Kummer in meinen Bauch, doch der Blick auf die Uhr beunruhigt mich. Es ist mittlerweile 5 vor 12. Ich habe Druck, meine Kinder auf die Schlafmatten zu bringen, denn während der Mittagsruhe beaufsichtigt die Kollegin von nebenan die Kinder dieser und der Nachbargruppe, während sie sich parallel der Entwicklungsdokumentation widmet. Ich hingegen werde im Büro anzutreffen sein und ab 14.15 Uhr den Frühdienst in der Krippe ablösen, damit die Kollegin, welche bereits 8 Stunden im Dienst ist, pünktlich nach Hause gehen kann. Puh, was für ein Tag, aber die Arbeit macht ja Freude und auf mein Team ist Verlass. Die Kollegin von nebenan zum Beispiel steht mit ihren Kindern gerade in meiner Gruppentür. Entweder war mein Anflug von Verzweiflung spürbar oder wir waren zu laut. Egal, sie hat gute Laune, obwohl auch sie heute nur nebenan als Krankheitsvertretung aushilft und ihre Gruppe aufgeteilt werden musste. Sie steht im Türrahmen, lacht und singt mit den Kindern „Atemlos durch die Nacht.“


Sehr geehrter Herr Staatsminister, sehr geehrte Abgeordnete, sehr geehrte Frau Dr. Wolfram, werte Damen und Herren, diese Geschichte mag amüsant klingen- und die Episode von dem sich übergebenden Ben erspare ich Ihnen an der Stelle. Tatsächlich ist sie aber real und steht für viele ähnliche Erfahrungen, die ich als Kita-Leiterin, später als Fachberatung und nun auch als Referentin der Kinder- und Jugendhilfe des Deutschen Roten Kreuzes in den Einrichtungen machen durfte. Ganz klar ist festzuhalten: Es hat sich schon vieles in den letzten Jahren getan. Gerade die Schlüsselabsenkungen in Krippe und Kindergarten sowie die Einführung der Vor- und Nachbereitungszeiten sind Errungenschaften und zu würdigen. Das waren notwendige und gute Schritte, um die Betreuung in den Häusern voran zu bringen. Die in diesem Gesetzesentwurf definierten 4% Personalaufwuchs in den Kitas und auch erstmals Horten bestärken diesen Weg und sind erfreulich. Nicht verschweigen möchte ich jedoch, dass dies keinesfalls ausreicht, um verlässliche Betreuungsstrukturen in den Häusern zu sichern und die Missstände für Kinder und Mitarbeitende zu beheben. Ich möchte Ihnen gern erklären, warum das so ist:


Erstens: Uns ist vollkommen klar, dass ein Personalschlüssel alle Ausfallzeiten inkludiert. Fakt ist aber auch: 30 Tage Urlaub, 5 Tage geforderte Weiterbildung (und wir begrüßen die Verankerung im Gesetz sehr) sowie durchschnittlich 17 Krankheits- und weitere 2 Regenerationstage pro Mitarbeitende führen zu einem Ausfall von 4,5 Tagen pro Kopf im Monat. Im Klartext heißt das, dass ein Mitarbeiter von durchschnittlich 4 Arbeitswochen eine nicht anwesend ist. Stellen Sie sich diese Situation an einem Fließband von VW vor oder bei der Feuerwehr oder einfach nur in Ihrem eigenen Team. Dass mit dieser personellen Ausstattung 11 Stunden Öffnungszeit abgedeckt werden müssen, bleibt hier noch völlig unberücksichtigt. Ferner muss die Gewinnung motivierter und qualifizierter Fachkräfte weiterhin im Fokus bleiben. Praxisanleiter brauchen Zeit, um Lernsettings zu schaffen und mit den Auszubildenden zu reflektieren. Auch hierfür ist die perspektivische Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch eine angemessene Fachkraft-Kind-Relation unabdingbar.


Damit nicht genug, kommen wir zu dem zweiten Fakt: Obwohl das Personal in vielen Einrichtungen häufig kaum für den Normalbetrieb reicht, stehen wir alle vor der Herausforderung, das Thema Inklusion professionell umsetzen zu wollen. Dies ist uns ein Anliegen und das Gelingen für die Biographien der Kinder von immenser Bedeutung. Leider bleibt der Gesetzesentwurf an dieser Stelle weit hinter den Erwartungen zurück. Offen bleibt die Frage, WIE inklusive Betreuung gewährleistet werden kann. Ich glaube nicht erwähnen zu müssen, dass inklusives Arbeiten einen enorm erhöhten Bedarf an personellen, zeitlichen aber auch räumlichen Ressourcen darstellt. Eine „Kita für alle“ bedeutet genaues Beobachten, zielgerichtetes, individuelles Fördern, Bedürfnisorientierung, verstärkte Abstimmung im Team und intensive Elternarbeit. Einigkeit sollte an dieser Stelle auch über die Adressaten herrschen. Inklusion richtet sich an ALLE Kinder: Das sind Kinder mit körperlichen und geistigen Handicaps, aber auch Kinder mit Fluchterfahrung und seelischen Wunden. Um Ihnen eine Zahl zu nennen: In einem unserer Horte werden 45 Kinder mit Fluchterfahrung aus 15 unterschiedlichen Nationen betreut. Dankenswerter Weise konnte über das Projekt „Kinder stärken“ eine zusätzliche Fachkraft finanziert werden. Aber selbst dieser Aufwuchs reicht nicht aus, um den individuellen Erfordernissen der Kinder im Alltag gerecht zu werden. Sicher ist dieses Beispiel nicht die Regel, aber gerade deswegen müssen wir bei den Ausnahmen achtsam sein und angemessen wie zeitnah reagieren. Der Barmer-Ärzte-Report von 2021 sagt aus, dass ca. jedes vierte Kind unter einer Anpassungsstörung leidet, jedes fünfte unter einer Angststörung und jedes sechste Kind unter einer Depression. Für eine adäquate Gestaltung inklusiver Bildungsorte gibt es in dem momentanen Gesetzesentwurf keine ausreichenden Lösungsansätze, obwohl der Rechtsanspruch auf inklusive Betreuung bereits im Mai 2021 durch die Einführung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes im SGB VIII verankert wurde. Inklusion braucht zudem Steuerung. Bisher erfolgt jedoch noch nicht einmal die Erfassung der Plätze im Rahmen einer inklusiven Bedarfsplanung. Gleichzeitig zeigt sich in Sachsen eine dramatische Unterversorgung an medizinischen und therapeutischen Leistungen, welche oft in Kita und Horten durch die Fachkräfte kompensiert werden. 

Was es also zwingend braucht, ist die offene Haltung des Freistaates zu den oben genannten Punkten. Eine autonome Lösung durch Träger- seien sie kommunal oder im Verbund der Freien Wohlfahrtspflege ansässig, ist nicht darstellbar. Ein erster Schritt wäre hier, die durch den Geburtenrückgang entstehende demographische Dividende im System Kindertagesbetreuung zu berücksichtigen und bei der Bemessung der Fachkraft-Kind-Relation zu würdigen. In der jetzigen Situation dürfen sinkende Bedarfe an Krippen- und Kitaplätzen nicht dazu führen, dass trotz des Personalaufwuchses von 4% auch noch Personal entlassen wird. Unser gemeinsames Interesse muss es sein, Kitas und Horte als einen nachhaltigen und qualitativ hochwertigen sowie inklusiven Bildungsort für Kinder zu sichern und weiterzuentwickeln. 

Was es weiterhin braucht, sind starke Familien, die Gehör und Beteiligung erfahren. Möchten wir der Verstaatlichung von Bildungserfahrungen entgegenwirken, bedarf es der Stärkung von Eltern in ihrer Rolle bei zeitgleicher Berücksichtigung ihrer Interessen über die Beteiligung im Elternrat hinaus. Die Stärkung im Gesetz ist daher als ersten Schritt zu würdigen. 

Abschließend möchte ich noch zu einem Punkt kommen, der mir als Vertreter der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen sehr am Herzen liegt. Unsere Mitgliedsverbände: Die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas, die Diakonie, die Parität, der Landesverband Sachsen Jüdischer Gemeinden und auch wir als Deutsches Rotes Kreuz repräsentieren die Zivilgesellschaft und werden im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips tätig. Dies bedeutet auch, dass für uns die gleichen Grundlagen gelten wie für kommunale Träger. Der Gesetzesentwurf sieht nach wie vor einen Eigenanteil freier Träger in der Kita-Finanzierung vor, welchen es bei kommunalen Kitas so nicht gibt. Im Zuge der Gleichbehandlung bitten wir um Streichung, mindestens jedoch um Ersetzung des Wortes „Eigenanteils“ durch das Wort „Eigenleistung“.

Sehr geehrte Damen und Herren, der vorliegende Gesetzesentwurf ist ein guter, weiterer Schritt in Richtung Qualitätsverbesserung. Er besitzt Symbolkraft. Bei dieser darf es aber nicht bleiben. Daher möchte ich Sie bitten, sich mit den oben genannten drei Punkten:
Personalausfallreserven, Inklusion aber auch Eigenanteile freier Träger nochmals zu befassen.

Ich danke herzlich für die Einladung und Möglichkeit zur Stellungnahme sowie für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank.